Über den Menschen hinaus


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Auszug:

Die Veränderungen, die wir heute in der Welt wahrnehmen, sind intellektuell, moralisch und physisch in ihren Idealen und Zielsetzungen. Die spirituelle Revolution wartet auf ihre Stunde und wirft unterdessen hier und da hohe Wogen auf. Der Sinn des anderen kann nicht begriffen werden, bevor es da ist, und bis dahin sind alle Interpretationen der gegenwärtigen Ereignisse sowie Vorstellungen von des Menschen Zukunft vergeblich. Doch seine Natur, seine Kraft, sein Eintreten sind es, die den nächsten Zyklus der Menschheit bestimmen.

- Sri Aurobindo

 

Sri Aurobindo kam, um der Welt die Schönheit der Zukunft, die sich verwirklichen wird, anzukündigen. Er kam nicht, um Hoffnung zu bringen, sondern die Gewissheit von der Herrlichkeit, auf die die Welt zugeht. Die Welt ist kein unglücklicher Zufall: sie ist ein Wunder, das sich seiner Erfüllung nähert.

- Die Mutter

 

Vorwort

Die Geschichte berichtet selten über Dinge, die zwar entscheidend waren, doch hinter dem ‚Schleier des Verborgenen‘ stattfanden. Sie berichtet von der Show vor dem Vorhang.(1)*

- Sri Aurobindo

Es sah aus, als wäre der Vormarsch der Deutschen Armee nicht mehr aufzuhalten in jenen Tagen im August 1914, und das Schicksal von Paris und ganz Frankreich schien besiegelt. Die Deutschen hatten v. Schlieffens Plan mit großem Erfolg bis ins Detail befolgt. Ihre rechte Flanke, entlang der Kanalküste schnell aufrückend, musste noch ein paar Tage in südlicher Richtung vorstoßen, dann nach links abschwenken, um die scheinbar geschlagenen Überreste der französischen und britischen Truppen einzuzingeln. Triumphierend wollten sie in Paris einmarschieren, Hauptstadt und Symbol der westlichen Zivilisation. Die französische Regierung war im Schutz der Nacht nach Bordeaux geflohen. Die schwache Pariser Garnison unter General Joseph Galliéni erwartete, mitsamt der Stadt vernichtet zu werden.

Zur selben Zeit saß die sechsunddreißigjährige Madame Richard, geborene Mirra Alfassa, meditierend am Fenster eines Hauses in der Rue Dupleix in Pondicherry, einem kleinen französischen Hafen an der Koromandelküste Südindiens. Die Pariserin Madame Richard war eine geschulte Okkultistin und weit fortgeschritten auf spirituellem Gebiet. Sie war mit ihrem zweiten Ehemann, Paul Richard, nach Pondicherry gereist, um dort Aurobindo Ghose aufzusuchen, den revolutionären, extremistischen Politiker aus Bengalen, der sich 1910 in dieses verschlafene französische Städtchen zurückgezogen hatte, um sich dem Griff der Engländer zu entziehen und hier seinen noch revolutionäreren Yoga auszuüben. Die Begegnung hatte Mirras höchste Erwartung erfüllt, und nun saß sie in Meditation vor dem Fenster mit Sicht auf das Haus, in dem Aurobindo Ghose lebte.

Tief konzentriert, mit geöffneten Augen, sah sie plötzlich Kali, die nackte schwarze Göttin des Krieges und der Zerstörung, mit einer Girlande von Schädeln um den Hals durch die Tür treten. ‚Sie vollführte ihren Tanz – ein wirklich wilder Tanz. Und sie sagte zu mir: „Paris wird eingenommen, Paris wird zerstört werden!“ Wir hatten überhaupt keine Nachrichten (über die Kriegssituation) ... Ich war in Meditation. Ich drehte mich zu ihr um und sagte: „Nein, Paris wird nicht eingenommen. Paris wird gerettet werden“, ruhig, ohne die Stimme zu erheben, aber mit einem gewissen Nachdruck.‘ (2) So erzählte es Mirra Alfassa den Kindern des Ashrams viele Jahre später, als sie schon lange von allen die Mutter genannt wurde.

Der äußerste rechte deutsche Flügel stand unter dem Kommando eines kriegerischen Preußen, General v. Kluck. Er war so stark von einem Debakel in den feindlichen Reihen überzeugt, dass er glaubte, v. Schlieffens strategischem Plan nicht länger folgen zu müssen. Anstatt weiter nach Süden zu marschieren, um dann direkt nach links auf Paris vorzurücken, beabsichtigte er, das Schwenkungsmanöver sofort auszuführen, den erschöpften Feind auf seinem Rückzug einzuschließen und sich darauf um Paris zu kümmern. Das deutsche Hauptquartier, zu spät über v.Klucks Absichten informiert, billigte den Plan, – ein Schnitzer, durch den die Deutschen den Sieg verspielten und möglicherweise den Krieg, wie es Barbara Tuchman in ihrem Buch The Guns of August anschaulich berichtet. Was niemand für möglich hielt, passierte: die physischen und moralischen Reserven der Franzosen reichten noch aus, um die geschlagenen Armeen neu zu organisieren; für diesmal kooperierten die Briten bereitwillig, und die inzwischen verstärkte Pariser Garnison griff die Deutschen an ihrer so gut wie ungeschützten rechten Flanke an. Die Situation lief auf die Schlacht bei Marne hinaus, und aus dem Bewegungskrieg wurde ein Stellungskrieg. Paris wurde nicht eingenommen, Paris wurde gerettet.

Ein anderes entscheidendes historisches Ereignis: Im Mai 1940 sah es wieder so aus, als wären die Deutschen nicht aufzuhalten, diesmal unter ihrem Führer Adolf Hitler. Ihre Panzer rasselten durch die ebenen Länder und durch die Ardennen auf die französischen Häfen am Kanal zu. Dadurch sollten die sich zurückziehenden französischen Truppen und der Vormarsch der britischen Streitmacht erneut abgeschnitten werden. Der Blitzkrieg wäre dann im Handumdrehen beendet und Hitler Herr und Meister über den größten Teil Europas und, wer weiß, der Welt.

Gleichwohl: ‚An jenem Abend (24. Mai) bekamen vier Panzerdivisionen den Befehl, am Aa-Kanal zu stoppen. Die Bemannung der Panzer war erstaunt: Vom gegenüberliegenden Ufer kam kein Feuer! Drüben waren die friedlichen Türme von Dünkirchen zu sehen. War man im Hauptquartier noch bei Sinnen? Die Divisionskommandeure waren noch mehr überrascht. Sie wussten, sie konnten Dünkirchen ohne weiteres einnehmen, da die britische Legion in Lille noch in heftige Gefechte verwickelt war. Warum ließ man sie nicht den letzten Fluchthafen nach England erobern?‘ Dies schrieb John Toland in seiner Standardbiographie Adolf Hitlers. (3) Die Verzögerung sollte die Deutschen teuer zu stehen kommen, nämlich den Gewinn des Krieges. Göring hatte sich von Hitler die Ehre und das Vergnügen erbeten, die in Dünkirchen zusammengetriebenen feindlichen Truppen mit seiner Luftwaffe zu zerschmettern, und Hitler hatte aus noch ungeklärten Gründen zugestimmt. ‚Aber Nebel kam den Briten zu Hilfe. Nicht nur, dass er Dünkirchen der Sicht entzog: Alle Flugfelder der Luftwaffe lagen unter einer tiefen Wolkendecke. Ihre dreitausend Bomber konnten nicht hoch.‘ (4) Unterdessen setzte eine buntgemischte Flotte von etwa neunhundert Schiffen und Booten aller Arten und Größen über den Kanal und brachte zwischen dem 24. Mai und 4. Juni britische und alliierte Truppen mit 338.226 Soldaten an Land. Seltsamerweise schien die sich fortsetzende Evakuierung Hitler nicht zu beunruhigen’, bemerkte Toland – und bevor er begriff, was vor sich ging, waren die Dinge gelaufen.

In Pondicherry saß Aurobindo Ghose, jetzt Sri Aurobindo, im Kreise einiger Schüler für das tägliche Abendgespräch in seinem Zimmer, das er seit 1926 nicht mehr verlassen hatte. Er hatte bereits davor gewarnt, dass durch die Übergabe Belgiens die Häfen von Dünkirchen und Calais in deutsche Hände fallen würden. ‚Es gibt keine Hoffnung für sie (die Alliierten), es sei denn, sie könnten Dünkirchen halten oder durch eine Bresche zur französischen Linie entkommen.‘ (5) Bemerkenswerte strategische Einsicht eines Yogi, der in scheinbarer Zurückgezogenheit lebte, doch den Krieg Schritt für Schritt mit äußerster Konzentration verfolgte. Nirodbaran notierte in seinen Talks with Sri Aurobindo, was Sri Aurobindo am Abend des 31. Mai sagte: ‚So, sie sind weg von Dünkirchen.‘ Ein Schüler hatte erwidert: ‚Ja, es scheint, der Nebel hat bei der Evakuation geholfen.‘ Worauf Sri Aurobindo hinzufügte: ‚ Ja, Nebel ist zu dieser Jahreszeit recht ungewöhnlich.‘ Und Nirodbaran kommentiert: ‚Es sieht aus, als wollte Sri Aurobindo mit diesen Worten zu verstehen geben, die Mutter und er hätten den Nebel verursacht, um den Alliierten zu helfen.‘ (6) Die Kriegsgeschehnisse werden in dem Buch durchgehend diskutiert, und zweimal bestätigt Sri Aurobindo ausdrücklich, die Alliierten und Großbritannien seien ‚durch göttliche Intervention‘ gerettet worden. Anschließend schrieb er in einem Brief (über sich selbst, doch in der dritten Person): ‚In seiner Zurückgezogenheit bewahrte Sri Aurobindo eine strenge Aufmerksamkeit für alles, was in der Welt und in Indien geschah und griff ein, wenn es nötig wurde, jedoch nur mit spiritueller Kraft und in stiller spiritueller Aktion ... innerlich setzte er seine spirituelle Kraft in dem Moment hinter die Alliierten, als bei Dünkirchen jeder unmittelbar den Fall von England und den endgültigen Triumph Hitlers erwartete. Und er hatte die Genugtuung, zu sehen, wie der Siegesmarsch der Deutschen fast augenblicklich gestoppt wurde und die Kriegslage sich in die entgegengesetzte Richtung zu verschieben begann.‘ (7)

Dies sind nur zwei Beispiele von vielen, wo Sri Aurobindo und die Mutter nach ihren eigenen Aussagen und denen der Literatur, die sie hinterlassen haben, in die Geschichte des 20. Jahrhunderts eingriffen. Nie haben sie diese Aktionen hinausposaunt; eher erwähnten sie sie beiläufig in vertraulichen Gesprächen, die viel später veröffentlicht wurden. Alle Fakten zusammengenommen, bekommt man den Eindruck, dass die geschichtliche Entwicklung des zwanzigsten Jahrhunderts sozusagen in Wechselwirkung mit ihren spirituellen Bemühungen geschah. So unsinnig oder aufs gröbste übertrieben dies auch klingen mag, es besteht kein Zweifel an der Wahrhaftigkeit und Konsequenz ihrer Worte.

Die Literatur zu diesem Thema ist reich an Umfang und Inhalt. Die gesamten Werke Sri Aurobindos umfassen dreißig Bände, die meisten von ihnen sind sehr umfangreich. Bis jetzt wurden achtzehn Bände der gesammelten Werke der Mutter veröffentlicht; größtenteils Bandaufnahmen ihrer Gespräche, die aufgeschrieben und von ihr genehmigt wurden. Die Agenda, bestehend aus ihren Gesprächen mit Satprem, umfasst dreizehn Bände. Dann gibt es ihre Korrespondenz, zahllose Gespräche, von Nirodbaran Talenkdar, A. B. Purani und anderen aufgezeichnet, Erinnerungen, Anekdotensammlungen, neu entdeckte und kürzlich erst entzifferte Texte, vom Archiv des Sri Aurobindo Ashrams herausgegeben, Material aus den Kommentaren verschiedener Autoren und so weiter. Alles in allem wahrscheinlich die umfangreichste Literatur, die im Zusammenhang mit spirituellen Persönlichkeiten erhältlich ist.

The Life Divine, Sri Aurobindos philosophisches Hauptwerk, wurde von Aldous Huxley gelobt und seine epischen Gedichte Savitri und Ilion von Herbert Read mit Hochachtung erwähnt. Letzterer schrieb: ‚Sri Aurobindos Ilion ist nach allen Maßstäben eine bemerkenswerte Leistung, und es erfüllt mich mit Bewunderung, dass jemand, der nicht englischer Herkunft ist, nicht nur die englische Sprache als solche, sondern auch deren künstlerische Gestaltung in poetischer Diktion von derart hoher Qualität so wunderbar beherrscht.‘ (8) Golconde, ein Gästehaus für Besucher des Ashrams, in den dreißiger Jahren von der Mutter entworfen und unter ihrer direkten Aufsicht gebaut, wurde von dem bekannten Architekten Charles Correa als ‚das schönste Exemplar moderner funktionaler Architektur, das in der Zeit vor der Unabhängigkeit in Indien erbaut worden war, gepriesen.‘ (9) Die Schwedische Akademie prüfte Sri Aurobindos Kandidatur für den Literatur-Nobelpreis 1950, dem Jahr seines Hinschieds; seine Nomination wurde durch Gabriela Mistral und Pearl S. Buck unterstützt. Im Dezember 1972 veröffentlichte die Zeitschrift Newsweek einen Artikel über die Mutter mit der Überschrift: The Next Great Religion?

Noch sind Sri Aurobindo und die Mutter wenig bekannt, und wenn, dann meistens falsch verstanden. Worauf gründeten sie den Anspruch auf ihre okkulte Einflussnahme auf den historischen Prozess, der die Welt an die Schwelle des neuen Millenniums gebracht hat? Was war der tiefere Sinn des Zusammenwirkens eines bengalischen Freiheitskämpfers und Yogis einerseits und einer Pariser Okkultistin, die in ihrer Geburtsstadt zehn Jahre lang unter impressionistischen und postimpressionistischen Schriftstellern, Malern und Bildhauern verkehrte, andererseits? Wenn so viele ihrer literarischen, philosophischen und praktischen Talente von sachkundigen Leuten gepriesen wurden, wie konnte dann das, was sie als ihr wahres Werk ansahen, nichts als eine Täuschung sein?

Dieses Buch basiert auf allen verfügbaren Dokumenten, die aus unterschiedlichen Gründen von früheren Autoren noch nicht als Ganzes behandelt wurden. Die Wahrhaftigkeit der authentischen Schriften, Reden und Gespräche steht außer Frage. Das Resultat des Zusammenführens dieser Dokumente ist für uns alle wichtig und mag Einsicht geben in ‚Dinge, die entscheidend waren, doch hinter dem Vorhang geschahen’. Einsichten, die uns befähigen, die heutige planetare Krisensituation zu deuten und einen flüchtigen Blick in das anstehende Jahrhundert, in das neue Millennium, zu werfen.

Avatar

Gibt es einen verständlichen Grund zu der Annahme, dass die Geschichte unseres Planeten während einer seiner dramatischsten Krisen – oder wann immer – in ‚Wechselbeziehung‘ mit ein, zwei oder mehreren Individuen abläuft? Der Rationalist wird diese Frage als blanken Unsinn abtun, die uralte Weisheit des Hinduismus aber, dieser gigantische Wissenskörper, gibt hierzu eine fundierte bestätigende Antwort. In ihrer jahrhundertealten Vision von der Welt spielt die Figur des Avatars eine zentrale Rolle. Das ist jedem Hindu bekannt und wird als selbstverständlich hingenommen. Kein Tag geht vorbei, an dem nicht irgendwo in Indien eine jahrelang trainierte, graziöse Bharat Natyam Tänzerin die Geschichte von den ‚zehn Avataren‘ aufführt, eine Geschichte, mit der das Publikum seit Kindheit vertraut ist.

Die zehn Avatare sind: der Fisch, die Schildkröte, der Eber, der Mensch-Löwe, der Zwerg, Parasurama oder auch Rama-mit-der-Axt, Rama (mit dem Bogen), Krishna, Buddha und schließlich Kalki, der nach der Überlieferung noch kommen muss. In der Aufeinanderfolge fällt eine bestimmte Linie auf. ‚Die Abfolge der zehn Avatare ist gewissermaßen eine Parabel der Evolution’, schreibt Sri Aurobindo. ‚Die Progression ist treffend und unmissverständlich.‘ (10)

Der Fisch war das erste Wirbeltier im Mutterschoß des Ozeans. Dann kommt die Schildkröte, eine Amphibie, dann der Eber, ein Säugetier. Der Mensch-Löwe stellt die Übergangsform vom Tier zum Menschen dar. Es folgt Homo Faber, Rama-mit-der-Axt, gefolgt von Rama-mit-dem-Bogen, der Homo Sapiens, die Spezies, der wir alle zugehören und die sich jetzt zu einer großen Anzahl auf diesem Planeten vermehrt hat. Im mentalen Menschheitsbewusstsein ist schon eine Öffnung in die supramentalen Gefilde möglich, dank Krishna, und der nirvanische Zustand kann bewusst auf dem Pfad des Buddha erreicht werden. Kalki schließlich wird die große Umwandlung hervorbringen, die zum supramentalen Menschen und zum Reich Gottes führt – nicht als ein ätherisches, hypothetisches Jenseits, sondern als transformierte Erde. Dann wird der Traum verwirklicht, den die geplagte, leidende, unbefriedigte menschliche Spezies seit ihren Anfängen hegt.

Eine solche evolutionäre Linie, von den Avataren repräsentiert, ist ohne Zweifel bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass die Hindu-Tradition Tausende von Jahren alt ist, während The Origin of Species nicht vor 1859 veröffentlicht wurde. Der Avatar ist deutlich mit der Evolution verbunden und scheint sogar eine zentrale Rolle darin zu spielen.

Das Wort ‚Avatar‘ bedeutet im Sanskrit ‚Herabkunft’. ‚Es ist das Herabkommen des Göttlichen unter die Grenzlinie, die das Göttliche von der Welt der menschlichen Natur scheidet.‘ (11) Mit anderen Worten, der Avatar ist eine Verkörperung des Göttlichen in einer materialisierten Lebensform, eine direkte göttliche Inkarnation auf Erden.

Es wird sofort klar, dass das Avatar-Konzept auch im Westen wohlbekannt ist, denn Jesus Christus war nach eigener Definition ein Avatar. Daher hat die theologische Diskussion über seine Avatarschaft und seine mehr göttliche oder menschliche Natur Parallelen in der Hindu-Literatur, und daher erwähnt auch Sri Aurobindo in Essays on the Gita immer wieder die Namen von Christus, Krishna und Buddha in den Kapiteln über die Avatarschaft.

Allerdings, wo der Osten die volle evolutionäre Linie der zehn (und in besonderen Aufzählungen mehr) Avatare kennt, weiß der christliche Westen nur um einen. Die Bedeutung des Christus-Avatars wird generell anerkannt, aber die Behauptung von seiner Einmaligkeit als Avatar gibt der evolutionären und geschichtlichen Entwicklung der Erde und der Menschheit eine verworrene Perspektive, und der Christus-Avatar selbst bekommt den Schein von Willkür und Unwirklichkeit. Die Ursache zu dieser Einstellung war wahrscheinlich der kulturelle und religiöse ‚Monadismus‘ des Westens – die unbewusste oder manchmal sehr bewusste Egozentrik, die imperialistische Igelhaltung, das psychologische Iglu.

Die folgende Geschichte ist aus den alten indischen Schriften entnommen.

Da ist das Eine, das IST. Das Eine ist alles und bleibt auch ohne alles Existierende ganz sich selbst. Und neben dem Einen ist nichts, denn es ist alles.

Das Eine hat Namen in allen Sprachen, aber kein Name kann es definieren. Es ist DAS, was IST. Ohne Grenzen, ohne Fehler, ohne Leiden, ohne Bedürfnisse. Darum sagen die Weisen, das Eine sei nicht nur absolutes Sein und Bewusstsein, sondern auch Freude, absolute Seligkeit.

Und es erblickt sich selbst, es sieht sich selbst. Und was es in sich selbst sieht, ist. Denn sein Bewusstsein ist absolut und gegenwärtig wirkende Macht – Allmacht.

Das bedeutet, dass die endlose Freude seiner Selbstschau, seiner Selbsterforschung, eine andauernde Schöpfung, eine Formung dessen ist, was potenziell war, ist und sein wird in alle Ewigkeit.

Aus der kreativen Freude seiner Selbstschau entstand das Spektrum von Welten, alle verschieden voneinander, eines Künstlers Werk mit einer endlosen Kraft der Selbstentdeckung und Schöpfungsfreude.

Eine dieser Welten ist die unsere, eine evolutionäre Welt. In unserer Welt hat das Eine aus Licht die Nacht erschaffen; das absolute Bewusstsein hat sich in den Mantel des finstersten Unbewusstseins gehüllt, um sich vor sich selbst zu verstecken und damit die Möglichkeit zu eröffnen, die Freude einer neuen Selbstentdeckung zu erfahren.

Es ist eine lange mühsame Wiederentdeckungstour, diese Erforschung des Selbst in uns. Aber je dunkler die Nacht, desto ekstatischer die Morgendämmerung, wenn das Licht wieder hereinbricht. Die Reise zurück geschieht Schritt für Schritt, geduldig, langwierig. Aus dem Unbewussten entstand die Materie, aus der Materie entstand das Leben und aus dem Leben entstand das mentale Bewusstsein – alles gemäß der Ordnung, die das Eine geschaut und schauend für unsere evolutionäre Welt errichtet hat.

Aber der Mensch, das Wesen, das die irdische Verkörperung des mentalen Bewusstseins ist, steht noch weit entfernt von der Wiederentdeckung des Einen in sich selbst – so wie er zurückblickend schon weit entfernt von der Finsternis der Unbewusstheit ist. Das Übergangswesen Mensch befindet sich irgendwo zwischen den beiden Extremen ausgestreckt wie auf einem Kreuz.

In sich trägt der Mensch das gesamte Wachstum der Vergangenheit. Er hat Materie, Leben und mentales Bewusstsein in sich, er blickt nach gestern zurück und voraus ins Morgen und sieht sich selbst handeln. Er trägt einen Teil des Einen in sich, einen Funken des Lichts, das sein innerstes Selbst, seine Seele ist.

Das große Ordnungsmuster der Evolution, wie es durch das Eine geschaut wird, verhindert, dass Wesen einer bestimmten Rangordnung in der sich entwickelnden Hierarchie allein über ihre Grenzen hinaus schreiten können. Ein Fisch geht nicht von sich aus an Land; ein Affe trägt sich nicht mit dem Gedanken, ein Buch zu schreiben. Für eine Veränderung in dieser Größenordnung muss das Eine sein Machtwort sprechen, indem es selbst in seine Schöpfung, die eine Selbstmanifestation ist, eingreift und die für jede neue Stufe der Evolution notwendigen Schritte einleitet, damit in unserer evolutionären Welt kein Chaos herrscht. Das ist das Gesetz, das hierfür vorbestimmt wurde – für dieses unser Universum.

In Zeiten des großen Übergangs muss das Eine immer wieder herabkommen und sein Werk verrichten, ein Werk, das die Kräfte von evolutionären Wesen übersteigt. Und immer wieder hat sich das Eine als Avatar verkörpert.

Die göttliche Allmacht kennt keine Grenzen. Genau das ist der Grund, warum sie sich selbst begrenzen kann – ein Wunder der Allmacht. In die durch sie manifestierte Welt hat sie einige strukturerhaltende Prozesse eingebaut. Wie Sri Aurobindo in diesem Zusammenhang schrieb: ‚Alles ist möglich, aber nicht alles ist statthaft – außer durch einen erkennbaren Prozess ... (12) Bestimmte Bedingungen sind festgelegt für das Spiel.‘ (13) Für das kosmische Spiel oder die Lila der göttlichen Manifestation.

In dem ‚Spiel‘ oder Prozess, durch den unser Universum funktioniert, spielt der Avatar die führende Rolle. Er erscheint auf der kosmischen Bühne in Zeiten des Übergangs, in Krisenmomenten, wenn auf der Leiter der irdischen Evolution eine höhere Stufe eingefügt wird. Jede Krisenzeit ist Teil des großen Musters; sie zeigt an, dass die kosmische Evolution in diesem Moment für eine neue Phase ihrer Entfaltung reif ist. Die Manifestation – ihre Krisen miteinbegriffen – bringt nur das hervor, was in dem Einen, dem Göttlichen, in aller Ewigkeit fortbesteht.

‚Der Avatar kommt, um der Menschheit den Weg zu einem höheren Bewusstsein zu eröffnen‘ (14) (Sri Aurobindo) – seit dem Stadium der Evolution, in dem der Mensch auf der Erde anwesend ist – vorher haben Avatare auch für die Tierwelt höhere Seinsformen möglich gemacht, wie man aus der „Abfolge der Avatare“ schließen mag. Um einer neuen evolutionären Phase Gestalt zu geben, muss der Avatar alles, was vorausgegangen ist, in sich aufnehmen und assimilieren, erst dadurch erhält er seine wahre evolutionäre Bedeutung und Funktion. ‚Wer die Welt retten will, muss mit der Welt eins sein.‘ (15)

Nach Sri Aurobindo und der Mutter ist der Mensch noch nicht das höchste Wesen auf Erden, der Herr der Schöpfung, das ‚Meisterwerk aller Meisterwerke’. Es ist noch nicht allzu lange her, da hätte eine solche Behauptung auf den Scheiterhaufen geführt, aber in dieser Zeit der Science-Fiction, der Mutanten und Außerirdischen in fernen Galaxien entspricht sie eher dem allgemeinen Verständnis. Außerdem, ist er nicht viel zu unvollkommen, dieser Mensch, um als Gottes Meisterwerk betrachtet zu werden? Wir brauchen dazu nur, wie der holländische Dichter Gerbrand A. Bredero sagt, ‚einen Blick in uns hinein zu werfen’. Sollte Gott nicht eines Besseren fähig sein?

Wer oder was wird dann aber nach dem Menschen auf diesem Planeten erscheinen? Wer oder was erntet die Früchte seiner Arbeit, seines Leidens und seines Elends durch alle Jahrhunderte hindurch? Ein Roboter ohne Fehl und Tadel? Ein nietzscheanischer Supermensch? Sri Aurobindo und die Mutter haben eine andere Antwort bereit, überraschend und auf den ersten Blick unmöglich. Aber sie waren gekommen, um das Unmögliche möglich zu machen, als Avatare.

Wer würde heute einen Avatar erwarten – zu diesem Zeitpunkt? Ist nicht alles spirituell und wesentlich Bedeutsame schon ein für allemal in der Vergangenheit passiert? ... Als wäre die Vergangenheit nicht auch einmal ein Heute gewesen!

‚Ich habe gesagt: „Folgt meinem Pfad, folgt dem Weg, den ich für euch durch meine eigene Anstrengung und mein Beispiel gefunden habe. Transformiert eure Natur von einem tierhaften in ein spirituelles Wesen, wachst in ein höheres göttliches Bewusstsein hinein. Das alles könnt ihr mit eurer eigenen Aspiration und mit Hilfe der Kraft der göttlichen Shakti tun. Dies, wohlgemerkt, ist nicht die Äußerung eines Wahnsinnigen oder Geistesschwachen. Ich habe gesagt: „Ich habe den Weg bereitet; jetzt könnt ihr ihm mit göttlicher Hilfe folgen.“ ‚ (16) Dies sind die Worte von Sri Aurobindo, 1935 gerichtet an einen Schüler, der zur Entstehungszeit dieses Buches noch lebt. Und im selben Briefwechsel spricht Sri Aurobindo vom ‚Pfad, den ich geöffnet habe, wie Christus, Krishna, Buddha, Chaitanya usw. den ihren.‘ (17)

Die Aufgabe eines Avatars kann von keinem gewöhnlichen irdischen Wesen erfüllt werden; darum muss das Göttliche kommen, um es selbst zu tun. Die Mission wäre sinnlos, übernähme der Avatar, um den Weg zu zeigen, nicht selber die Last des Menschen, der hilflos eingespannt ist zwischen den beiden Extremen seiner Möglichkeiten. ‚Jeder, der die Erdennatur ändern will, muss sie erst annehmen, um sie dann zu ändern’, (18) bedingungslos und vollkommen, und durch seine Akzeptanz verleiht er der Evolution ihren Sinn. Das aber weiß der Mensch nicht, er nimmt es nicht wahr, es ist für ihn zu erhaben, sein Verstand reicht dort nicht hin. Noch rührt sich das Tier in ihm und beißt nach der helfenden, emporziehenden Hand. Gethsemane und Golgatha sind das Los der Avatare.

Gott muss geboren werden auf der Erde und hier als Mensch sein,

damit der Mensch als Mensch wachsen kann so wie Gott.

Savitri (19)

Wenn Sri Aurobindo und die Mutter Avatare gewesen sind, was war dann ihr Gethsemane und Golgatha?

* Die Zahlen in Klammern verweisen auf den Quellenverweis am Ende dieses Buches.

Gabriela Mistral schrieb über Sri Aurobindo: ‚Sechs Fremdsprachen verliehen dem Meister aus Pondicherry die Gabe der Koordination, eine unaufdringliche Klarheit und einen Charme, der ans Magische grenzt ... Dies sind wahrhaft Glücksbotschaften, die uns da erreichen: einen Ort in der Welt zu wissen, wo Kultur in einem Menschen durch die Vereinigung eines übernatürlichen Lebens mit einem vollendeten literarischen Stil ihre Würde erlangt hat indem sie von seiner herb-schönen und klassischen Prosa als Dienerin des Geistes Gebrauch macht.‘ (Zitiert aus D.K. Roy, Sri Aurobindo Came to Me.)



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